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SONNTAGSZEITUNG

SONNTAGSZEITUNG

Jon Mettler

8. März 2020 um 00:00:00

Nick Hayek, Chef der Swatch Group, räumt ein, dass seine Gruppe im untersten Preissegment weniger Uhren verkauft. Doch nicht die Smartwatch sei dafür verantwortlich, sagt er im Interview.

Coronavirus, abnehmende Exporte, Smartwatch: Steht die Schweizer Uhrenindustrie vor einer neuen Krise?
Wenn ich die Zeitungen aufschlage, dann scheinen wir umzingelt zu sein von lauter Krisen und Gefahren: Klima, Coronavirus, starker Schweizer Franken, China, isolationistisches Amerika, Flüchtlinge, EU und natürlich die Smartwatches. Aber ehrlich, wo lese ich etwas über die Chancen, die all diese Dinge mit sich bringen? Ich sehe keine Krise für die Schweizer Uhrenindustrie. Im Gegenteil sogar. Ja, wo denn?

Im unteren und mittleren Preissegment sind die exportierten Stückzahlen rückläufig.
Tja, mit Exportzahlen kann ich mir nichts kaufen. Echte Verkaufszahlen sind wichtiger. Also schauen wir doch mal auf die Verkaufszahlen in Stück der Swatch Group über die letzten Jahre im untersten, mittleren und oberen Segment. Das Luxussegment lassen wir mal aussen vor. Bitte. Seit 2010 ist das mittlere und obere Segment bei der Swatch Group mit sieben Marken von Tissot bis Longines um über 36 Prozent gewachsen, auf weit über sechs Millionen Stück. Tissot alleine – und das ist das erste Mal, dass ich dies publik mache – ist seit 2010 um mehr als dreissig Prozent auf rund 3,6 Millionen Stück gestiegen. Den einzigen starken Rückgang im Volumen hat Tissot im letzten Jahr verzeichnet, mit einem Rückgang von rund 250000 Stück im zweiten Halbjahr wegen der Lage in Hongkong.

Machen sich da die Proteste in Hongkong bemerkbar?
Ja, da haben Sie völlig recht. Aber schauen wir in die USA: Dort hat Tissot letztes Jahr 36 Prozent mehr Uhren verkauft als 2015. In Japan ist Tissot im letzten Jahr volumenmässig um 33 Prozent gewachsen gegenüber 2015. Dies sind Fakten. Sie zeigen, wie hemmungslos in letzter Zeit auch seriöse Zeitungen mit falschen Zahlen spekulieren.

Trotzdem: Warum gehen die stückmässigen Exporte der gesamten Branche im Einsteigersegment zurück?
Weil praktisch alle anderen Playerinnen der Schweizer Uhrenindustrie sich aus dem untersten, mittleren und oberen Segment zurückgezogen haben, um sich auf das Luxussegment zu konzentrieren. Wahrscheinlich, weil sie glauben, dass dort mehr Geld zu verdienen ist, was so eben nicht stimmt.

Beunruhigt es Sie nicht, dass das Niveau der stückmässigen Exporte vergleichbar ist mit der Zeit kurz vor der grossen Krise in den 80er-Jahren?
Das Problem war damals, dass man überall Volumen verlor, weil es null Innovation gab. Aber man verlangte trotzdem immer höhere Preise, obwohl dem Konsumenten nichts Neues geboten wurde. Qualität spielte keine Rolle mehr, sondern war nur ein Marketingslogan. Swatch verhalf dem «Swiss made» wieder zu Innovation und Präzision, Qualität gepaart mit Emotion. Sie erlaubte es, das Herzstück der Schweizer Uhrenindustrie wieder aufleben zu lassen: Die mechanische Uhr als Inbegriff des «Swiss made» bei Uhren weltweit.

Aber jetzt verkaufen Sie weniger günstige Uhren.
Es stimmt, wir haben im untersten Marktsegment, wo Swatch, Calvin Klein und Balmain zu finden sind, zwischen 2015 und 2019 weniger verkauft. Davon geht ein grosser Anteil – rund eine Million Stück – auf Balmain und Calvin Klein zurück. Letztere ist ja nicht unsere eigene Marke und wird bald nicht mehr Teil der Gruppe sein. Auch Swatch hat im Vergleich zu 2015 rund 25 Prozent weniger Uhren verkauft, liegt aber immer noch bei weit mehr als 5 Millionen Stück pro Jahr.

Die Vermutung liegt nahe, dass Ihnen die Apple Watch mehr zusetzt, als Sie zugeben wollen. Der US-Konzern greift die Schweizer Uhrenindustrie mit seiner Smartwatch bewusst in dem mittleren Preissegment an.
Es gibt vor allem zwei Gründe: Seit 2015 hat Swatch rund dreissig Prozent ihres Vertriebsnetzes geschlossen, weil viele Warenhäuser und Händlerinnen durch das Onlinegeschäft verdrängt worden sind. Hier hätte die Swatch durch ein aggressiveres Umschalten auf E-Commerce schneller reagieren sollen und müssen. Das macht sie jetzt, und zwar erfolgreich.

Und der zweite Grund?
Am 15. Januar 2015 hat der Präsident der Nationalbank den Mindestkurs für den Schweizer Franken zum Euro aufgehoben. Das vergessen viele Leute ein bisschen zu schnell. Das hatte massive Einwirkungen auf das unterste Marktsegment, vor allem in Bezug zum Euro. Damit hat Swatch, die ja «Swiss made» ist, fast die ganze Marge verloren, und gleichzeitig ist die Konkurrenz aus Asien billiger geworden. Im Einstiegssegment reagieren die Kundinnen sehr sensibel auf Preisveränderungen, und die Händlermarge ist klein.

Hat der Rückgang bei Swatch nicht eher damit zu tun, dass die Marke in die Jahre gekommen ist und an Beliebtheit verliert?
Natürlich ist Swatch eine etablierte Marke. Natürlich besitzen viele Leute auf der Welt bereits eine oder mehrere Swatches. Und natürlich stelle ich in der Schweiz fest, dass einige Konsumentinnen sagen: «Swatch habe ich langsam gesehen.» Aber die Swatch ist in der Schweiz im letzten Jahr trotzdem gewachsen. Stark dazu beigetragen hat neben dem Onlineverkauf auch die Swatch Pay und die Swatch, die man selber designen kann und dank Digitaldruck innert Stunden hergestellt wird.

Das tönt so, als seien nur äussere Einflüsse schuld. Welche Verantwortung übernehmen Sie als Chef?
Ich übernehme liebend gern die Verantwortung für alles Schlechte und Gute, aber es muss den Fakten entsprechen. Ja, wir haben bei Swatch nicht schnell genug auf E-Commerce fokussiert. Aber wir sind in diesem Jahr auf gutem Weg, die Millionengrenze im Onlineverkauf zu knacken.

Wenn viel weniger Uhren hergestellt werden, droht ein grosser Stellenabbau. Ist wegen der Situation bei Swatch, Calvin Klein und Balmain damit zu rechnen?
Sie haben ja gesehen, dass wir im mittleren Segment nicht an Stückzahlen verloren haben. Wahrscheinlich wird es im Zuge des Auslaufens der Lizenzvereinbarung mit Calvin Klein im unteren Segment einen Abbau geben. Aber sonst sehen wir im Moment keinen Handlungsbedarf.

Aktuell bereitet das Coronavirus der Weltwirtschaft grossen Kummer. Wird die Uhrenindustrie nicht noch anfälliger für unerwartete Ereignisse, wenn sie sich aus gewissen Preisklassen zurückzieht?
Das tut die Swatch Group doch überhaupt nicht. Im Gegenteil. Viele unserer über 200 Patente, die wir im letzten Jahr wieder registriert haben, betreffen das untere und mittlere Preissegment. Sie definieren Innovation nur in Form von Software und Computern und scheinen einfach Argumente zu suchen, um Ihre These zu bestätigen, dass Smartuhren angeblich den Untergang der Schweizer Uhrenindustrie bedeuten sollen.

Inwiefern ist die Swatch Group vom Ausbruch betroffen?
Da wir eine sehr starke Marktposition in China haben, sind wir natürlich massiv von den temporären Schliessungen von Hunderten von Läden betroffen. Auf der Lieferketteseite hingegen sehen wir weniger Probleme, da die Swatch Group sehr vieles selber in der Schweiz produziert.

Heisst das, die Swatch Group kommt nur mit einem blauen Auge davon?
Wir sind eine grundsolide Gruppe ohne Schulden und nicht infiziert vom Virus der Kurzfristigkeit der Börse. Trotz aller Weltuntergangspropheten wird sich auch diese Situation wieder verbessern.

Warum tut die Swatch Group nicht mehr, um Konzerne wie Apple mit eigenen Smartwatches zu bekämpfen?
Warum sollten wir die Smartwatches bekämpfen? Sie sind keine Gefahr, sondern eine Chance. Sie schaffen einen neuen Markt für uns. Den sollten wir aber mit unseren Stärken für uns nützen und nicht, indem wir selber ins von alltäglichen Handelswaren getriebene Unterhaltungselektronik-Geschäft gehen. Die Smartwatches haben auch dafür gesorgt, dass viele Amerikaner, die gar keine Uhren mehr trugen, sich nun wieder daran gewöhnen, etwas am Handgelenk zu tragen. Damit werden sie wieder zu potenziellen Kunden für unsere «Swiss made»-Uhren, die viel nachhaltiger und emotionaler sind.

Was gibt Ihnen die Gewissheit, dass solche Kunden später eine «echte» Uhr kaufen?
Am meisten Interesse zieht die mechanische Uhr auf sich. Die Erhöhung der Präzision und der Gangdauer, die neuen antimagnetischen Eigenschaften durch den Einsatz von Silizium und anderen Hightech-Werkstoffen bedeuten grosse Fortschritte. Oder die Reduktion oder sogar das Wegfallen von Serviceintervallen dank neu entwickelten Ölen. All diese Innovationen sind strategisch überlebenswichtig für die Uhrenindustrie. Die Swatch Group ist hier federführend, und viele dieser patentgeschützten Innovationen werden mithilfe der digitalen Industrie 4.0 bei uns in der Schweiz hergestellt.

Die traditionsreiche analoge Uhrenindustrie produziert digital? Das ist schwer vorstellbar.
Eine Siliziumspirale, das Herz eines mechanischen Werks, wird wie ein Computerchip auf einem Wafer (dünne Scheibe aus Halbleitermaterial, die Red.) produziert. Wir treiben diese Innovationen von Swatch bis zu Breguet voran. Sie sind nötig, damit wir die einmalige Stellung der Schweizer Uhrenindustrie halten und ausbauen können. Innovation heisst eben nicht nur Software oder Computer – oder Volumen wie in der Unterhaltungselektronik-Industrie. Auch darum haben wir vor sieben Jahren die Wettbewerbskommission gebeten, für mehr Konkurrenz zu sorgen. Damit sind andere Grossfirmen wie LVMH und Richemont gezwungen, viel mehr in die eigene Produktion von innovativen mechanischen Werken zu investieren. Und nicht einfach gekaufte Standardwerke einzubauen, die man auch bei chinesischen Marken finden kann.

Offensichtlich bereitet Ihnen die Smartwatch kein Kopfzerbrechen. Führte nicht gerade diese Art von übersteigertem Selbstbewusstsein zur Uhrenkrise vor 40 Jahren?
Ich habe Ihnen gerade die Stärken und Einzigartigkeit der Schweizer Uhrenindustrie heute aufgezeigt, und Sie nennen das übersteigertes Selbstbewusstsein? Es scheint mir einfach, Sie wollen auf Teufel komm raus Ihre These der Krise bestätigt haben, wonach Smartuhren unsere Industrie kannibalisieren. Schauen Sie sich doch die Zahlen der japanischen Uhrenindustrie an. Dort sehen Sie, dass es keinen nennenswerten Kannibalisierungseffekt gibt, obwohl Japans Uhrenindustrie anfälliger auf Smartwatches ist als wir.

Wieso sind Sie sich da so sicher?
Die japanischen Uhrenhersteller haben von 2003 bis 2018 ein Viertel ihres Export- und Inlandvolumens eingebüsst. Zwischen 2014 und 2018 aber verlangsamte sich dieser Rückgang deutlich auf nur noch minus 7 Prozent – obwohl damals die Apple Watch und andere Smartwatches lanciert wurden. Die Smartwatches stimulieren eher den Konsum, als dass sie ihn verdrängen.

Haben Sie die Wirkung der Smartwatch nicht unterschätzt, dass Sie erst jetzt mit der Tissot Connected kommen?
Nein, sicher nicht. Ich sehe Chancen für unsere Industrie, aber nur, wenn wir unsere Stärken und unser spezifisches Knowhow im Bereich der Niedrigenergie und der Integration in eine Uhr einsetzen. Darum haben wir uns vor drei Jahren entschlossen, über 35 Millionen Franken in ein eigenes Betriebssystem zu investieren, in Kooperation mit dem Entwicklungszentrum CSEM in Neuenburg. Die Tissot T-Touch Connect Solar wird diesen Sommer lanciert.

Aber laufen Sie nicht Gefahr, neue Konsumentengruppen wie die Millennials an die Konkurrenz zu verlieren?
Ah, die Millennials. Wissen Sie, dass ausgerechnet die Millennials weltweit, aber auch im Silicon Valley die passioniertesten Käufer unserer mechanischen Uhren sind, ob Swatch Sistem51, Blancpain Fifty Fathom oder Omega Speedmaster? Die Smartwatch ist keine Bedrohung für die Uhrenindustrie, sondern eine Möglichkeit. Sie verleitet ihre Nutzer sogar dazu, früher oder später eine mechanische Uhr zu kaufen und zu tragen. Sie werden auch Kunden für unsere Smartwatches sein.

Aktie verliert an Wert
Rückläufiger Umsatz
Exporte auf tiefem Niveau

«Ich übernehme liebend gern die Verantwortung für alles Schlechte und Gute, aber es muss den Fakten entsprechen», meint Nick Hayek, «aber die Marke Swatch ist im vergangenen Jahr in der Schweiz gewachsen.»

Zur Person

Georges Nicolas Hayek, genannt Nick, wurde 1954 geboren. Seit 2003 ist er Chef und seit 2010 Verwaltungsrat der von seinem Vater Nicolas Hayek gegründeten Swatch Group. Zum Uhrenkonzern in Biel gehören Marken wie Omega, Rado und Swatch. Vor seiner Zeit bei Swatch realisierte Nick Hayek als Regisseur und Produzent «Family Express», einen Spielfilm mit Peter Fonda. Hayek ist ein begeisterter Helikopterpilot.

Schweizer Uhrenindustrie macht turbulente Zeiten durch

Die Schweizer Uhrenindustrie ist einem starken Gegenwind ausgesetzt. Die Verbreitung des Coronavirus trifft das Geschäft in den bedeutenden Absatzmärkten Hongkong und China empfindlich. Die Markenboutiquen in den Einkaufsmeilen sind vorübergehend geschlossen, den Konsumentinnen steht nicht der Sinn nach Luxusuhren.

Gleichzeitig nehmen wegen des neuen Erregers weltweit die Touristinnenströme ab, ebenfalls eine wichtige Einnahmequelle. Das Virus ist aber nicht der einzige äussere Einfluss, welcher dem drittgrössten Exportzweig der Schweiz mit seinen 59 000 Mitarbeiterinnen zu schaffen macht. Bereits seit dem Sommer 2019 schrecken in Hongkong Proteste gegen das kommunistische Regime in China kaufwillige Touristinnen ab und stören den Alltag der Einwohnerinnen.

Es gibt aber noch tiefer liegende Probleme, die zum Vorschein kommen. Wie die Exportzahlen für das vergangene Jahr zeigen, sind die stückmässigen Ausfuhren auf unter 21 Millionen Uhren gefallen. Das ist nahe am Niveau Anfang der 80er-Jahre, bevor die Uhrenindustrie in die grosse Krise schlitterte. Der Rückgang findet im unteren und mittleren Preissegment statt.

Gemeint sind Uhren zu einem Exportpreis von bis zu 200 Franken respektive 200 bis 3000 Franken. Kennerinnen der Uhrenindustrie sehen dafür folgende Gründe: Die Herstellerinnen konzentrieren sich seit zehn Jahren auf die lukrativen Luxusuhren und vernachlässigen das Einstiegssegment. Das rächt sich jetzt, weil die branchenfremde Konkurrenz mit dem Massenprodukt Smartwatch diese Preisklasse gezielt angreift.

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